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Die Geschichte des Geschäfts- und Wohnhauses der Familie Grimm

Abertham liegt in 930 m Höhe über dem Meer und wurde im Jahr 1529 von fränkischen und sächsischen Siedlern gegründet, als in diesem Teil des Erzgebirges Silber und Zinn gefunden wurde. Nachdem die Erzlagerstätten erschöpft waren, lebte die Bevölkerung bescheiden vom Spitzenklöppeln. Entsprechend einfach waren die Häuslein, wie ein Bild einer Aberthamer Straßenzeile zeigt. Erst als der Aberthamer Adalbert Eberhart im Jahr 1850 das Handschuhmacherhandwerk aus Wien in seine Heimat mitbrachte, kam es zu einem wirtschaftlichen Aufschwung. Lenka Löfflerová beschrieb in der tschechischen Zeitschrift „Krušnohorský Herzgebirge Luft“, November 2018, die Entwicklung eines Wohlstandes in Abertham, dargestellt am Beispiel des Entstehens vieler Fabrikantenvillen. Im Neudeker Heimatbrief Nr. 3/2020 und im „Grenzgänger“ Nr. 89 (Mai 2020) haben wir diesen Bericht in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Der durch die aufstrebende Handschuhindustrie entstehende Wohlstand beschränkte sich nicht nur auf die Fabrikanten, sondern wirkte sich allmählich auch auf die Geschäfts- und Wohnhäuser von Abertham aus. Im folgenden beschreibt der gebürtige Aberthamer Josef Grimm Auszüge aus seiner Familiengeschichte.

 

 

Im Grimm- Stammbaum väterlicherseits, der von Hobbyahnenforschern aus dem Verwandtenkreis lückenlos bis 1535 erstellt wurde, erscheint erstmals bei Johann Grimm, geb. 13.8.1768 in Abertham, als Bergmann tödlich im Schacht verunglückt, die Hausnummer 110. Im Jahr 1770 hatte Maria Theresia in allen habsburgischen Erbländern die Anbringung von Hausnummern angeordnet, so auch in Abertham. Der älteste Katasterplan von Abertham stammt aus dem Jahr 1842. Er kann im Internet unter  https://ags.cuzk.cz/archiv/  eingesehen werden. Dort ist das Haus Nr. 110 an der Senke eingezeichnet, wo die rote Wistritz die Straße nach St. Joachimsthal quert. Dieser Teil von Abertham wurde „da Mill“ (die Mühle) bezeichnet. Dort befand sich früher eine Mühle an der Wistritz, mit der offenbar die Familie Grimm etwas zu tun hatte, denn im Grimm-Stammbaum wird für Johann Grimm, geb. 18.9.1662 und seinen Sohn Antonius Grimm, geb. 17.1.1692 der Beruf „Pachtmüller bzw. Müller“ angegeben. Vom Häuslein Nr. 110, wie es in den Jahren 1906-1924 ausgesehen hat, haben wir im Familienalbum eine Zeichnung. Es zeigt das Geschäfts - und Wohnhaus der Familie meines Großvaters Franz Grimm (1870-1938), von Beruf Schuhmachermeister und im Jahr 1928 auch Bürgermeister von Abertham. Für ein Geschäftshaus und das Haus eines Bürgermeisters war es wahrlich nicht repräsentaviv. Außerdem lag es für ein Geschäftshaus an ungünstiger Stelle, nicht zentral im Ort, sondern am Ortsrand. Mein Vater Pepp Grimm (1899-1961) erlernte auch das Schuhmacherhandwerk und trat in den elterlichen Betrieb ein. Er legte in diesem Fach die Gesellenprüfung und dann die Meisterprüfung ab. In Abertham war er durch seine aktive Mitgliedschaft im Deutschen Turnverein und im Theaterverein bekannt. So war es kein Wunder, dass er aus dem kleinen Häuslein ein größeres Geschäfts - und Wohnhaus in der Stadtmitte machen wollte und er sparte eisern für dieses Vorhaben. Er erwarb den nötigen Grund nur etwa 50 m vom Marktplatz entfernt in der Eva-Buchholz-Straße Nr. 20. Dort plante er für damalige Verhältnisse ein stattliches Geschäfts- und Wohnhaus. Als es 1924 endlich an das Ausheben des Fundaments ging, traf ihn ein großer Rückschlag: man stieß auf einen Bergbaustollen, der bis knapp an die Erdoberfläche reichte. Dies war im bergbaudurchlöcherten Erzgebirge keine Seltenheit. Im benachbarten Bärringen wird von einem ähnlichen Fall berichtet. „Bei der Renovierung des Gasthofes „Bärringer Hof“ im Jahr 1850 brach das Fundament ein und der ganze Giebel stürzte in die Tiefe, wo sich hier ein unbekannter Stollen befand. Man musste eine große Menge Steine in die Grube werfen, um sie aufzufüllen, aber die Grube war wie ein Faß ohne Boden“. So traf es also auch meinen Vater. Um den Stollen unter dem neu zu bauenden Haus zu füllen, musste er fast das ganze angesparte Geld für Zement und Kies ausgeben, der über die Eisenbahnlinie Karlsbad-Johanngeorgenstadt nach Bärringen und von dort per Spedition nach Abertham transportiert werden musste. Für die weitere Finanzierung des Hauses musste er Kredite aufnehmen. Doch die Mühe und finanzielle Anspannung hat sich gelohnt, es entstand ein schönes Geschäftshaus mit einem Verkaufsraum für Schuhe und einer Schuhreparaturwerkstätte im Erdgeschoß. Da sich die „Neue Schule“ gleich gegenüber befand und die „Alte Schule“ (heutiges Rathaus) am Marktplatz nur 50 m entfernt war, nahm er auch noch Schulartikel und Galanteriewaren (Schmuck, modische Gebrauchsgegenstände) dazu. Die Wohnräume befanden sich im 1. Stock und Lagerräume im Dachgeschoß. Die Geschäfte gingen anfangs gut. In den Jahren 1929/1930 gründete er seine Familie. Die zu Beginn leidvolle Familiengeschichte habe ich im Neudeker Heimatbrief  Nr. 12/2015 beschrieben. Meine Schwestern Rosl und Gretl kamen in diesem Haus auf die Welt und ich als der ersehnte Stammhalter im Dezember 1942. Leider blieben Geschäftssorgen nicht aus durch die industrielle Massenproduktion von Schuhwaren des tschechischen Unternehmens Baťa. Teure handwerkliche Einzelanfertigung war nicht mehr gefragt. Bat’a - Schuhe wurden nicht nur in Baťa - Filialen verkauft, sondern auch in branchenfremden Läden ohne fachliche Verkaufsberatung. So nahm in Abertham ein Gemischtwarenladen Baťa-Schuhe in sein Verkaufssortiment auf. Die Folge war, dass die Leute dort die wesentlich billigeren industriell gefertigten Schuhe kauften, nur noch für die Reparatur von schief getretenen Absätzen oder durchgetretenen Sohlen waren die alteingesessenen Schuhgeschäfte gefragt. Die Schuhmacher sangen damals sarkastisch,  als ihnen die Baťa- Massenware das Leben schwer machte: „Baťa, Baťa, großer Schuster, gehst mir nicht mehr aus dem Sinn, deine Låtschn, deine Potschn sind in 14 Tagen hin“. Trotz des Geschäftsrückganges gelang es meinen Eltern, die Kredite für das Haus bis zum Jahr 1944 abzuzahlen. Als es dann schuldenfrei war, nahmen es uns die Tschechen im Jahr 1946 weg und jagten uns im Viehwaggon wie Bettler davon. Ich besitze den Durchschlag des  Enteignungsdokuments “Přihláška pro Němce“, von meinem Vater zwangsweise erstellt und am 4.4.1946 unterschrieben. Darin bin ich als damals dreijähriges Kind als Němec, Maďar a jiný nepřítel republiky (Deutscher, Ungar und anderer Feind der Republik) aufgeführt. Damit endet die Geschichte des  Geschäfts-und Wohnhauses im Besitz der Familie Grimm in Abertham. Im Jahr 1966 reiste ich mit einer meiner Schwestern erstmals nach der Vertreibung in meine Geburtsheimat. „Unser“ Haus befand sich in tschechischem Staatsbesitz und war von tschechischen Mietern bewohnt. Um hineinzugelangen, hatte ich den tschechischen Satz auswendig gelernt: „Jsme děti vlastníka a chceme vidět naše vlastnictví“ (Wir sind die Kinder des Eigentümers und wir wollen unser Eigentum sehen). Natürlich stießen wir auf Verwunderung, aber man zeigte uns unsere ehemaligen Wohnräume. Ich konnte auch das Zimmer sehen, in dem ich auf die Welt gekommen bin. Seitdem war ich bei meinen inzwischen vielen Besuchen in Abertham nie mehr in „unserem“ Haus. Irgendetwas sperrt sich in mir. Heute gehört das Haus einem gewissen Jozef Hraško, der darin eine Autoreparaturwerkstätte betreibt. Die Hausnummer 20 ist gleich geblieben, nur der Straßenname hat sich geändert in Vítězná (Siegesstraße), nachzulesen im tschechischen Internet unter www.ikatastr.cz  . Ich habe kein Interesse mehr an dem Haus, die Zeit ist darüber hinweggegangen. Aber meine Familiengeschichte, die lückenlos von 1535 bis 1946, also volle 411 Jahre immer in Abertham im Stammbaum dokumentiert ist, kann mir niemand nehmen.